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Bernard Schultze Aquarell 1982

@ 2015: Andreas Weber, Mainz/Frankfurt. Bildvorlage: Bernard Schultze.” Landschaft mit Vogel” (Detail), 1982, Aquarell und Feder/Papier, 29,3 x 73,9 cm (Sammlung Weber-Schwarz, Mainz/Frankfurt am Main).

Von Andreas Weber

Zufall oder nicht? Am grausam erschütternden, brutalen Terror-Tag, dem 13. November 2015, kam mir nachmittags, vor den schrecklichen Abend-Ereignissen in Paris, Bernard Schultze in den Sinn, der dort lebte und oft und gerne in der Seine-Metropole weilte. Wie auch mein Vater. Und ich selbst, der gerade erst im Oktober 2015 dort weilte und die Picasso.Mania-Ausstellung im Grand Palais bestaunte. Denn 33 Jahre zuvor, am 13. November 1982, hatte mich Bernard in meinem damaligen Mainzer Zuhause besucht. 

Der 1915 im damaligen Schneidemühl, Westpreußen, geborene und 2005 in Köln gestorbene Bernard Schultze war ein deutscher bildender Künstler und gilt noch heute als ein Vertreter der Kunstrichtung Informel. Was eigentlich gar nicht zutrifft! Phantasie und Disziplin, im Wechsel von spontanem Einfall und geistiger Kontrolle, zeichnen sein Schaffen aus — „mit weitläufigen Erzählungen innerer Welten“. Kurzum: Schultze ist Schultze-ist, der den Schultzeismus formte! Wer ihn persönlich kannte — für mich als junger Kunstgeschichte-Student war er ein wichtiger Mentor und Inspirator — kann dies bestätigen. Mein Schlüsselerlebnis: 1982 besuchte er mich in meiner Mainzer Studentenbude. Locker und gelöst saß er mir gegenüber auf dem Sofa, griff den gerade frisch gedruckten Katalog zu seiner Ausstellung im Mainzer Landesmuseum, die am 13. November 1982, also auf den Tag genau vor 33 Jahren, öffnete! Er fragte mir regelrecht Löcher in den Bauch, um mein Denken über Kunst und Künstler und auch das Studium zu erfahren; all das, während er in den Katalog zeichnete. Quasi eine bildnerische Widmung für mich. Das Zeichnen hielt ihn nicht vom Reden und Zuhören ab. Ein intensiveres Gespräch kann man sich kaum vorstellen. Die wunderbare Zeichnung halte ich in Ehren! — Ich habe von Bernard Schultze in einigen Gesprächen und gemeinsamen Erlebnissen, auch bei ihm und seiner Frau „Spinne“ in Köln oder beim legendären Darmstädter Dialog mit Prof. Dr. Adolf Schmoll genannt Eisenwerth mehr über Kunst und Kunstgeschichte gelernt als in vielen Vorlesungen und Seminaren während des Studiums.

Aus Anlass der Mainzer Ausstellung vor 33 Jahren und des 100. Geburtsjahres von Bernard Schultze publiziere ich in Auszügen zwei lesenswerte Aufsätze: Von meinem Vater Prof. Wilhelm Weber, damals Landesmuseum-Direktor in Mainz. Und von Bernard Schultze selbst (beide Beiträge erschienen auch im Katalog, siehe Quellenangabe am Schluss).

Über eine unvermeidliche Sache nicht trauern.
Zu neuen Arbeiten von Bernard Schultze

Von Wilhelm Weber

Seinen Namen habe ich erstmals im Herbst 1950 gehört, Bilder von Ihnen zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort gesehen: in der Zimmergalerie Franck in Frankfurt am Main, die mich zu einem Vortrag “Zeitgenössische Kunst in Paris” eingeladen hatte. Seit dem Winter 1946 ich mich in Paris auf, hatte mich umgesehen in Ateliers und Galerien. Als einzigen “französischen Bezug” konnte ich in Schultzes Bildern eine gewisse Verwandtschaft mit André Masson ausmachen. Hier wie dort eine „imaginäre Welt, eine doppeldeutige Spielart der Metamorphosen, heimliche und flüchtige Natur, unberechenbares im Flug erhaschen und bannen (Michel Leiris über Masson).

So einzigartig es klingen mag: als ich die späteren Bilder von Bernard Schultze sah, auch die Migofs und Environments, — bei aller Distanz zwischen den Werken von Schultze und von Masson –, musste ich immer noch an diesen französischen Maler und Zeichner denken, wenn Bernard Schultze, der seit 1952 immer wieder nach Paris kommt, vorübergehend Riopelle, Fautrier und Dubuffet näher stand. Eine sist sicher: trotz der tachistishcen Bilder (von „le tache“, der Fleck), die Schultze als Zugehöriger zur „Frankfurter Quadriga“ bei Klaus Franck im Dezember 1952 ausstellte, zeichnet und malt er „diesseits der Natur“. Auch für ihn trifft zu, was Michel Leiris über Masson sagt: „Es hat den Anschein, als verwerfe er jede Perspektive außer der der Kosmogonien, und als zähle für ihn nichts, was nicht als Aufblühen oder als Offenbarung in Erscheinung tritt, die Geburt der Wesen und dinge, das Auftauchen von Figuren und Ideen in den Schlupfwinkeln unseres Geistes“.

Erika Kiffl Atelier von Bernard Schultze, Köln 1978 Silbergelatine auf Barytpapier, 29,1 x 29,1 cm Museum Kunstpalast, AFORK, Düsseldorf

Atelier von Bernard Schultze, Köln, 1978. Foto: Erika Kiff. Silbergelatine auf Barytpapier, 29,1 cm auf 29,1 cm. Museum Kunstpalast, AFORK, Düsseldorf.

Schultze bekannte, daß seine schweifende Bild-Phantastik, auch von den „Chimären Kubins“ beeinflußt wurde. Sein „kulturelles Reservoir“ hat sich in durch Vertiefen in die Werke von Grünewald, Altdorfer, auch in die Graphik und Malerei von James Ensor gebildet. Sein gedanklicher Fundus ist viel zu groß, seine ständige Bereitschaft zu meditieren viel zu lebendig, als daß er sich nur mit der Steuerung materieller Macharten von Bildern hätte begnügen können. Natürlich überstürzten ihn die Bilder von Pollock und Riopelle, diese „Farbfelder-Orgien und Erdbeben-Bilder“, aber die Grundtendenz seines Schaffens — „im Detail wechselnd, doch im Ganzen unwandelbar“ — blieb das Visionäre, die Lust zu verwirrendem Spiel, „zu Abenteuer hinter der Dornenhecke des Märchens zu immer leuchtenderen Labyrinthen“.

Seit 1952 geisterte das Wort „Informel“ durch Pariser Ateliers, Galerien und Feuilletons. Michel Tapié hatte es mit flinker Zunge in Umlauf gebracht, wie es Andere vor ihm mit der Erfindung der Begriffe „Impressionisme“ oder „Cubisme“ getan hatten. Das französische „informe“ heißt unförmig, ungestaltet. Aber genau dies sind die malerischen und gezeichneten Schemen von Bernard Schultze nicht, dessen horror vacui das ordnende Sehen herausfordert. Und wenn das Kunst-Wort „Informel“ auch Bezug haben soll zum französischen „informer“, wobei sicherlich gilt, daß die „Informellen“ sich beim ungesteuerten Malprozess mehr oder weniger bewußt „informieren“, — auch in diesem Falle gab es nur vorübergehend einige Berührungen von Schultze mit dem, was als „Informel“ bezeichnet wird.

So sehr seine Bilder in brodelnder Malerei hintreiben, und seine Zeichnungen aus nervöser, zasseliger Ecriture hervorgehen, — sie zielen auf Gestaltetes ab, saugen sich voll mit der Mühsal des Malens und Zeichnens, um die „Schlupfwinkel des Geistes“  nur zu verlassen, wenn die Umgrenzung gesichert ist. Nicht das Wuchern ins Grenzenlose, sondern das Abgrenzen, das Bestehen des Grenzenlosen, treibt ein gemaltes Bild, eine Zeichnung in das nächste Bild, in die nächste Zeichnung. „Das Labyrinth ist mein Schutz“, hat er selbst lapidar formuliert. Mit dem Schlagwort „Informel“ wird er sich nicht malträtieren lassen.

In seinem Katalog-Beitrag, den Bernard Schultze für die Ausstellung im Mittelrheinischen Landesmuseum Mainz schrieb, äußert sich der Maler und Zeichner zu seinen neuen Arbeiten.

(…)

BernardSchultze1968

Bernard Schultze, 1968. Foto: Wikipedia.

Über meine neuen Arbeiten

Von Bernard Schultze (geschrieben im August 1982)

Was hat sich verändert seit den Bildern aus den fünfziger Jahre, der sogenannten tachistischen Periode? Damals wurde die Leinwand am Boden liegend gleichsam geschunden, mit Farbbrei beschmiert, begossen mit verflüssigter Farbe, um mit Pinseln tätowiert, malträtiert zu werden, Striemen und Einsprengsel hinterlassend. Verwundert betrachtete ich Tage später, was ich da angerichtet hatte, was an Farb-Lachen und Verkrustungen übriggeblieben war. Mit dem ‚musée imaginaire’ im Kopf wurden Bezüge zu Barock, zu Delacroix und Makart geschaffen. Das musée gab das Stichwort. Ich versuchte, den vor mir liegenden Farbzustand kostbarer zu machen, durch Lasuren Schicht über Schicht. Wann aber sollte ich aufhören, denn das ist die entscheidende Tat, wie es schon Paul Klee notierte. Die Folge der Zerstörungen führte zum Endzustand, dass „es stimmt“, mußte erreicht werden.

Und heute, meine neuen Bilder, was hat sich geändert. Der Machensvorgang damals — übrigens die gebräuchlichste Vokabel in tachistischer Zeit — gab dem Zufall der Malmaterial-Manipulationen zu viel Bedeutung. Dem Lesbaren unter dem Diktat des Unbewußten (Breton) wurde zuwenig Raum gelassen. Das automatische Zeichnen, die ‚écriture automatique‘ war immerhin reinster Ausdruck solcher Willenlosigkeit, dem Sichtreibenlassen, ganz Objekt, vom Unbewußten genährt zu werden. Wie gesagt, das schöne Bild, das Ästhetische  war nicht das Entscheidende, war sogar Ablenkung, Ausweichen solcher Konsequenz. Es ging allein um den Wahrheitsgehalt im psychologischen Bereich, also nicht zum Beispiel um Cézannes Bild-Wahrheit vor der „schrecklichen Natur“, sondern um Sichtbarmachung eines inneren Zustands tiefer Schichten, von denen C. G. Jung sprach, als dem kollektiven Unbewußten.

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Bernard Schultze: Handbarriere. Mischtechnik auf Karton, 49,3 cm auf 64,3 cm-1965

Bernard Schultze erzählte bei seinem Besuch bei mir in Mainz, als er simultan zeichnete und redete, dass er ein schicksalhaftes Erlebnis hatte, das ihm die Augen öffnete: Er war im Kunstmuseum Basel, sah sich Zeichnungen von Joseph Beuys an. Er wanderte umher, ging um eine Ecke. Und stand staunend und beeindruckt vor Zeichnungen von Cézannes… —Andreas Weber

Solcher Automatismus ist am reinsten durch das Werk des zeichnenden, schreibenden Pinsel möglich, in einem dem inneren So-Sein im Augenblick der Handlung entsprechenden Zustand, „Brush-Work“ von den Amerikanern genannt.

Es gibt Stellen auf den Bildern von Soutine, Kokoschka und Ensor, nicht zu vergessen die beinahe somnabule Faktur des späten Corinth, selbst wenn sie alle die Natur als Sprungbrett noch nehmen. So ergeben sich Bezüge zu spätimpressionistischer bis expressiver Pinselschrift in meinem neuen Bildern, wie ich die Farbfleckreihung und Überlappung eines Cézanne benutze, ohne damit die Konzeption Cézannes auch nur im geringsten zu streifen. Vielmehr gestattet die Pinselschrift, eine weitläufige Erzählung innerer Welten zu realisieren.

Das gibt mir das Stichwort zu dem, was H. Stachelhaus als General-Titel zu meinen neuen Bildern bemerkte: innere Landschaften. Damals, in den fünfziger Jahren waren es tektonische Formationen, eine Art Erdbeben-Bilder der Gegenwart, an Carus Wortschöpfung denkend.

Ich glaube, meine Migofs der sechziger und siebziger Jahre mit ihrem breiten Stammbaum bis zu den Verzweigungen der Environments, haptische dreidimensionale Geschöpfe bereiteten jetzt den Umschlag vor., Unsichtbares, innere Konstellationen, ja Landschaften neuerer Art darzustellen. Natürlich fließen Fragmente von schon Gesehenem in Natur und Kunstgeschichte mit hinein, machen die Entzifferung solcher Bilder zweideutiger, schaffen Verunsicherungen, wie das Stammeln in der Trance.

Noch etwas zum Grundsätzlichen meines So-seins: Beaucamp [gemeint: Eduard Beaucamp, langjähriger Feuilleton-Redakteur der FAZ] nannte in einem Text über mich diese Situation Disziplin und Fantasie. Ich glaube, es ist eine manieristische Parole, die ich ganz bejahe und auch den Bruch zwischen Natur und Leben. Kein erweiterter Kunstbegriff soll es sein, im Gegenteil, Flucht in erträumte Welten, in ein Land Orplid, im Turm aus Elfenbein lebend.

Quellennachweis:

Beitrag von Wilhelm Weber. In: http://d-nb.info/830172181
Bernard Schultze: Bilder aus den Jahren 1977 – 1982 ; Mittelrhein. Landesmuseum Mainz, 13. November – 12. Dezember 1982 / [Hrsg.: Mittelrhein. Landesmuseum Mainz. Red.: Wilhelm Weber u. Wolfgang Venzmer]

Ausstellungsbilder: WDR “Bernard Schultze in Köln und Düsseldorf: Abstraktion und Poesie” 

Schultze, Bernard:  Ausstellungsbuch mit dreidimensionalem Cover.
Baden-Baden, Staatliche Kunsthalle, 1974 (Exemplar Sammlung Weber-Schwarz, Mainz/Frankfurt am Main)

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Eröffnungsrede von Andreas Weber
am 14. Dezember 2013 im Kunstverein Eisenturm, Mainz

 

Premiere der besonderen Art: Eisenturm wird zum Kunstraum!

„Schwindende, du kennst die Türme nicht.
Doch nun sollst du einen Turm gewahren
mit dem wunderbaren
Raum in dir. Verschließ dein Angesicht.
Aufgerichtet hast du ihn
ahnungslos mit Blick und Wink und Wendung.
Plötzlich starrt er von Vollendung,
und ich, Seliger, darf ihn beziehn.
Ach wie bin ich eng darin.
Schmeichle mir, zur Kuppel auszutreten:
um in deine weichen Nächte hin
mit dem Schwung schoßblendender Raketen
mehr Gefühl zu schleudern, als ich bin.“

Aus: Sieben Gedichte, Gedicht Nummer 4, von Rainer Maria Rilke, verfasst zw. 14. Oktober und 9. November 1915, Ort unbekannt

Meine Damen und Herren, willkommen im Reich der Transformation. Der Eisenturm wird heute zum besonderen, anderen Ort. Vergessen wir für einen Moment, dass wir uns hier versammelt haben, um eine Kunstausstellung zu eröffnen. Lassen wir uns ein in den Dialog mit dem Leben, unserer Vergangenheit und Zukunft. Unserem eigenen Sein. Der Veränderung durch Kunst. Der Neugeburt in uns selbst.

Der Eisenturm ist nunmehr ein Kunstraum. Perfekt ausgestattet, mit Dingen, die es in dieser Kombination und Konstellation noch nie zuvor gab. Sorgsam, geradezu minutiös ausgerichtet. Man muss in kleinen Dingen exakt sein, damit es im „Großen Ganzen“ stimmt. — Meine Anregung: Verschließt den Eisenturm. Ändert nie mehr etwas.

Sucht Euch ab nun andere Räume für Wechselausstellungen.

„ES IST!“

Warum?

Weil – wie noch nie zuvor – sich zwei Künstlerseelen, die sich zuvor nicht kannten, hier vereinten und gemeinsam ihr kreatives Talent nutzten, um etwas KOSTBARES zu schaffen, dass stark und kraftvoll, aber auch zart und zerbrechlich zugleich ist. Und archaisch-modern unsere Vorstellungskraft neu auszurichten hilft. Handle with care – der Name ist Programm. Gehe sorgsam mit den Dingen, dem Sein, der Natur, den Gedanken und Gefühlen um. Fange an, Dich mit Dir selbst zu beschäftigen, indem Du Gedankenfetzen, Impulse, Beobachtungen, Assoziationen, Gefühle, Zweifel, Wut und Irritation unbeirrt und nie nachlassend visuell und haptisch für uns alle erfahrbar machst.

„Ist das ein Bild?“, fragte gestern Dr. Treznok, als er ein Werk von Christine Laprell zum ersten Mal sah. Seine Irritation provozierte eine wunderbare Debatte über Herz und Sinn der Ausstellung: Was nehmen wir wahr, weil wir es wahrnehmen wollen? Nicht wie ES IST, sondern wie wir es haben wollen. —— Ist eine Leinwand, die mit Farbe, Papierfetzen, Blättern, Schriftkritzeleien und anderem lückenhaft befüllt ist, tatsächlich ein Bild?

HA! Ein Bild ist ein Bild. Ein Bild muss kein Gemälde sein. Und eine Skulptur muss nicht aus Holz, Marmor oder Metall gegossen werden. Und ein narratives Gemälde als Erzählstück braucht schon gar keine Leinwand. Plastikfolie, also Kunststoff, zum Beispiel ist doch viel besser. Und liefert zudem Transparenz.

Kunst-Dinge, wie wir hier in unserem neuen Kunstraum Eisenturm sehen, können sprechen. Ohne etwas reden zu müssen. Non-verbale Kommunikation ist ungemein mitteilsam.

Die Bilder an der hohen Wand könnten zum Beispiel folgendes „sagen“:

„Mein Leben ? ! : ist kein Kontinuum! (nicht bloß Tag und Nacht in weiß und schwarze Stücke zerbrochen ! Denn auch am Tage ist bei mir der ein Anderer, der zur Bahn geht; im Amt sitzt; büchert; durch Haine stelzt; begattet; schwatzt; schreibt; Tausendsdenker; auseinanderfallender Fächer; der rennt; raucht; kotet; radiohört; ‘Herr Landrat’ sagt: that’s me!) ein Tablett voll glitzender snapshots.“

Arno Schmidt, Faun, 1953.

Oder die Plastikfolien-Bahnen unter der Empore unseres Kunstraums säuseln lyrisch-verwirrend:

„Dein Kopf ist ein Turm

mit strahlentanzenden Linsen.

Die geübte Hand weiss es oft viel besser

als der Kopf.

O Dichter!

Willst Du den Moder einer Gruft schildern

und gebricht es Dir dabei

an der so nötigen Inspiration,

kauf Dir einen Camembert,

und ab und zu daran riechend,

wirst Du können.

Gedicht von Paul Klee, 1906, Titel: Dein Kopf ist ein Turm

Hören Sie es es auch, das lyrische Säuseln meine Damen und Herren? Falls nicht, stelle ich fest, dass uns völlig unbewusst ist, was uns bewusst sein sollte oder könnte.

Die menschliche Wahrnehmung und Erinnerung läuft stark fragmentiert ab. Man nennt das auch das „musivische Dasein“. Wie erlange ich Zugang zur Sprache des Unbewussten? Wie kann ich sie aktiv gestalten?

Diese Fragen scheinen nunmehr beantwortet. Denn: Unser heute, zum 14. Dezember 2013, neu geschaffener und wunderbar inthronisierter Kunstraum der Mainzer Kunstverein-Eisenturm-Galerie, zeigt uns dies durch das Werk und Wirken der beiden Künstlerinnen Christine Laprell und Petra Jung.

Beide führen uns als Mainzer und Rheinhessen zurück an wichtige Eckpunkte unserer Geschichte, die unserer Wahrnehmung und unserer Erinnerung entrückt, also unbewusst geworden sind.

Oder erinnern Sie sich an das Jahr 1951?

An die Vergabe des Großer Literaturpreis der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz?

Wer war 1951 der Preisträger der im Jahr 1949 von Alfred Döblin gegründeten, noch heute erfolgreich aktiven Akademie? — Nun, ganz einfach ein Jahrhundert-Denker, Provokateur und Schriftsteller, der hier in unserem Kunstraum sogar noch posthum omnipräsent ist. Durch sein Schreiben, seine Text und die Wirkungsmechanismen, die seine verschriftlichte Sprachgewalt auslösen. Petra Jung trägt dies in sich, indem sie als naturkundige, reisebegeisterte und wache Beobachterin, Sammlerin organischer Materialien und Kunstschaffende verinnerlicht hat, worum es dem Preisträger von 1951 geht. Und Christine Laprell, in Deutsch und Kunst ausgebildet, macht dies zum täglichen Bestandteil ihrer Werke, indem sie dessen Texte und Sprachfetzen reflektiert und in ihrer ganz eigenen Art bildnerisch umsetzt.

Und, auf wen bezieht sich Christine Laprell? Wen meine ich? 

Zugegeben, meine Damen und Herren, ich mag Sie ein wenig in die Irre geführt haben. Eingangs zitierte ich ungenannt Rainer Maria Rilke, Sieben Gedichte, Gedicht IV, aus dem Herbst 1915. „Dein Kopf im Turm”, stammt aus dem Jahr 1906 von Paul Klee. Aber, die Sequenz mit „Herr Landrat“, „That’s me”, „glitzender snapshots“ stammt vom IHM, aus dem Jahr 1953.

Ich selbst kam mit IHM als 12jähriger in Kaiserslautern in Kontakt. Bei einer Szenischen Uraufführung, die der Künstler Prof. Eberhard Schlotter mit meinem Vater Wilhelm Weber in der Pfalzgalerie am 13. Mai 1971 veranstaltete. Bilder von Schlotter und Texte von Schlotters Freund Arno Schmidt. Schlotter hatte Mitte der 1950er Jahre Arno Schmidt vor den Attacken der katholischen Moselmanen gerettet, indem er ihn von Kastell im Saar-Mosel-Gebiet ins evangelische Darmstadt rettete. Arno Schmidt war durch seine sprachlich freizügigen Seelandschaft mit Pocahontas wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften angeklagt worden. Das Verfahren wurde im liberalen Darmstadt eingestellt. — Warum erzähle ich das, hier und heute?

Arno Schmidt steht für eine Symbiose aus traditionellem Erzählen (vorwiegend aus einer dominanten Ich-Perspektive) und avantgardistischer Schreibtechnik. Er hat sich mit schwierigen Themen auseinandergesetzt. Rebellierte gegen die Adenauer-Zeit. Setzte sich intensiv mit der Psychoanalyse von Freud auseinander, die er auf die Literatur übertrug. Es ging ihm um den Vorgang:, das sich das Unbewusste nicht nur in Bildsymbolik ausdrückt, sondern auch sprachlich in einem „eigenen Schalks=Esperanto“ aus AmphibolienWortspielenAssonanzen, usw., um neben der manifesten Bedeutungsebene gleichzeitig auch – meist sexuelle – Nebenbedeutungen auszudrücken.

Christine Laprell wendet nunmehr das Prinzip der Umkehrung an: Sie verwandelt sprachlich-schriftliches wiederum in Bildsymbole und Bildaussagen. So vielfältig die Text- und Sprachassoziationen sind, so vielfältig ist ihre bildnerische Ausdrucksweise. Es entsteht ein interaktiver Prozess von fulminanter Bedeutung. Und in dieser Interaktionslust und -befähigung fühlen sich Christine Laprell und Petra Jung im Herzen und im Geist aufs engste verbunden.

Aber Fragen wir doch die beiden Künstlerinnen direkt; damit, meine Damen und Herren, steigen wir in einen kurzen Dialog mit den Künstlerinnen ein, damit ich hier nicht vor Begeisterung im Kunstraum-Rausch zum Dauerredner und Alleinunterhalter mutiere.

Meine erste Frage:

Was verbindet Euch? Bzw. vielleicht kann Christine Laprell kurz schildern, was sie am Werk von Petra Jung fasziniert? Und umgekehrt?

Meine weiteren Fragen: 

Wie kam Christine Laprell zur Literatur, vorzugsweise Arno Schmidt?

Wie kam Petra Jung zum variantenreichen Umgang mit ausgefallenen organischen Materialien, die als Objekte erscheinen und von grafischen Arbeiten begleitet werden?

Und last but not least:

Was macht dieses Ausstellungserlebnis so einzigartig?

Welches sind Eure persönlichen Highlights?

Hinweis:
Impressionen von der Eröffnung mit Dietmar Gross und Andreas Weber sowie Diskussion mit den Künstlerinnen aus YouTube:

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Video der Reden von Dietmar Gross und Andreas Weber sowie der Diskussion mit den Künstlerinnen zur Eröffnung auf YouTube

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Video zum Making-off der Ausstellung auf YouTube

http://youtu.be/SMCLxgGMTsY

 

Fotoimpressionen von Andreas Weber, 13. Dezember 2013

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