
@ 2015: Andreas Weber, Mainz/Frankfurt. Bildvorlage: Bernard Schultze.” Landschaft mit Vogel” (Detail), 1982, Aquarell und Feder/Papier, 29,3 x 73,9 cm (Sammlung Weber-Schwarz, Mainz/Frankfurt am Main).
Von Andreas Weber
Zufall oder nicht? Am grausam erschütternden, brutalen Terror-Tag, dem 13. November 2015, kam mir nachmittags, vor den schrecklichen Abend-Ereignissen in Paris, Bernard Schultze in den Sinn, der dort lebte und oft und gerne in der Seine-Metropole weilte. Wie auch mein Vater. Und ich selbst, der gerade erst im Oktober 2015 dort weilte und die Picasso.Mania-Ausstellung im Grand Palais bestaunte. Denn 33 Jahre zuvor, am 13. November 1982, hatte mich Bernard in meinem damaligen Mainzer Zuhause besucht.
Der 1915 im damaligen Schneidemühl, Westpreußen, geborene und 2005 in Köln gestorbene Bernard Schultze war ein deutscher bildender Künstler und gilt noch heute als ein Vertreter der Kunstrichtung Informel. Was eigentlich gar nicht zutrifft! Phantasie und Disziplin, im Wechsel von spontanem Einfall und geistiger Kontrolle, zeichnen sein Schaffen aus — „mit weitläufigen Erzählungen innerer Welten“. Kurzum: Schultze ist Schultze-ist, der den Schultzeismus formte! Wer ihn persönlich kannte — für mich als junger Kunstgeschichte-Student war er ein wichtiger Mentor und Inspirator — kann dies bestätigen. Mein Schlüsselerlebnis: 1982 besuchte er mich in meiner Mainzer Studentenbude. Locker und gelöst saß er mir gegenüber auf dem Sofa, griff den gerade frisch gedruckten Katalog zu seiner Ausstellung im Mainzer Landesmuseum, die am 13. November 1982, also auf den Tag genau vor 33 Jahren, öffnete! Er fragte mir regelrecht Löcher in den Bauch, um mein Denken über Kunst und Künstler und auch das Studium zu erfahren; all das, während er in den Katalog zeichnete. Quasi eine bildnerische Widmung für mich. Das Zeichnen hielt ihn nicht vom Reden und Zuhören ab. Ein intensiveres Gespräch kann man sich kaum vorstellen. Die wunderbare Zeichnung halte ich in Ehren! — Ich habe von Bernard Schultze in einigen Gesprächen und gemeinsamen Erlebnissen, auch bei ihm und seiner Frau „Spinne“ in Köln oder beim legendären Darmstädter Dialog mit Prof. Dr. Adolf Schmoll genannt Eisenwerth mehr über Kunst und Kunstgeschichte gelernt als in vielen Vorlesungen und Seminaren während des Studiums.
Aus Anlass der Mainzer Ausstellung vor 33 Jahren und des 100. Geburtsjahres von Bernard Schultze publiziere ich in Auszügen zwei lesenswerte Aufsätze: Von meinem Vater Prof. Wilhelm Weber, damals Landesmuseum-Direktor in Mainz. Und von Bernard Schultze selbst (beide Beiträge erschienen auch im Katalog, siehe Quellenangabe am Schluss).
- Katalog Baden-Baden 1974
- Katalog Baden-Baden 1974
Über eine unvermeidliche Sache nicht trauern.
Zu neuen Arbeiten von Bernard Schultze
Seinen Namen habe ich erstmals im Herbst 1950 gehört, Bilder von Ihnen zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort gesehen: in der Zimmergalerie Franck in Frankfurt am Main, die mich zu einem Vortrag “Zeitgenössische Kunst in Paris” eingeladen hatte. Seit dem Winter 1946 ich mich in Paris auf, hatte mich umgesehen in Ateliers und Galerien. Als einzigen “französischen Bezug” konnte ich in Schultzes Bildern eine gewisse Verwandtschaft mit André Masson ausmachen. Hier wie dort eine „imaginäre Welt, eine doppeldeutige Spielart der Metamorphosen, heimliche und flüchtige Natur, unberechenbares im Flug erhaschen und bannen (Michel Leiris über Masson).
So einzigartig es klingen mag: als ich die späteren Bilder von Bernard Schultze sah, auch die Migofs und Environments, — bei aller Distanz zwischen den Werken von Schultze und von Masson –, musste ich immer noch an diesen französischen Maler und Zeichner denken, wenn Bernard Schultze, der seit 1952 immer wieder nach Paris kommt, vorübergehend Riopelle, Fautrier und Dubuffet näher stand. Eine sist sicher: trotz der tachistishcen Bilder (von „le tache“, der Fleck), die Schultze als Zugehöriger zur „Frankfurter Quadriga“ bei Klaus Franck im Dezember 1952 ausstellte, zeichnet und malt er „diesseits der Natur“. Auch für ihn trifft zu, was Michel Leiris über Masson sagt: „Es hat den Anschein, als verwerfe er jede Perspektive außer der der Kosmogonien, und als zähle für ihn nichts, was nicht als Aufblühen oder als Offenbarung in Erscheinung tritt, die Geburt der Wesen und dinge, das Auftauchen von Figuren und Ideen in den Schlupfwinkeln unseres Geistes“.

Atelier von Bernard Schultze, Köln, 1978. Foto: Erika Kiff. Silbergelatine auf Barytpapier, 29,1 cm auf 29,1 cm. Museum Kunstpalast, AFORK, Düsseldorf.
Schultze bekannte, daß seine schweifende Bild-Phantastik, auch von den „Chimären Kubins“ beeinflußt wurde. Sein „kulturelles Reservoir“ hat sich in durch Vertiefen in die Werke von Grünewald, Altdorfer, auch in die Graphik und Malerei von James Ensor gebildet. Sein gedanklicher Fundus ist viel zu groß, seine ständige Bereitschaft zu meditieren viel zu lebendig, als daß er sich nur mit der Steuerung materieller Macharten von Bildern hätte begnügen können. Natürlich überstürzten ihn die Bilder von Pollock und Riopelle, diese „Farbfelder-Orgien und Erdbeben-Bilder“, aber die Grundtendenz seines Schaffens — „im Detail wechselnd, doch im Ganzen unwandelbar“ — blieb das Visionäre, die Lust zu verwirrendem Spiel, „zu Abenteuer hinter der Dornenhecke des Märchens zu immer leuchtenderen Labyrinthen“.
Seit 1952 geisterte das Wort „Informel“ durch Pariser Ateliers, Galerien und Feuilletons. Michel Tapié hatte es mit flinker Zunge in Umlauf gebracht, wie es Andere vor ihm mit der Erfindung der Begriffe „Impressionisme“ oder „Cubisme“ getan hatten. Das französische „informe“ heißt unförmig, ungestaltet. Aber genau dies sind die malerischen und gezeichneten Schemen von Bernard Schultze nicht, dessen horror vacui das ordnende Sehen herausfordert. Und wenn das Kunst-Wort „Informel“ auch Bezug haben soll zum französischen „informer“, wobei sicherlich gilt, daß die „Informellen“ sich beim ungesteuerten Malprozess mehr oder weniger bewußt „informieren“, — auch in diesem Falle gab es nur vorübergehend einige Berührungen von Schultze mit dem, was als „Informel“ bezeichnet wird.
So sehr seine Bilder in brodelnder Malerei hintreiben, und seine Zeichnungen aus nervöser, zasseliger Ecriture hervorgehen, — sie zielen auf Gestaltetes ab, saugen sich voll mit der Mühsal des Malens und Zeichnens, um die „Schlupfwinkel des Geistes“ nur zu verlassen, wenn die Umgrenzung gesichert ist. Nicht das Wuchern ins Grenzenlose, sondern das Abgrenzen, das Bestehen des Grenzenlosen, treibt ein gemaltes Bild, eine Zeichnung in das nächste Bild, in die nächste Zeichnung. „Das Labyrinth ist mein Schutz“, hat er selbst lapidar formuliert. Mit dem Schlagwort „Informel“ wird er sich nicht malträtieren lassen.
In seinem Katalog-Beitrag, den Bernard Schultze für die Ausstellung im Mittelrheinischen Landesmuseum Mainz schrieb, äußert sich der Maler und Zeichner zu seinen neuen Arbeiten.
(…)
Über meine neuen Arbeiten
Von Bernard Schultze (geschrieben im August 1982)
Was hat sich verändert seit den Bildern aus den fünfziger Jahre, der sogenannten tachistischen Periode? Damals wurde die Leinwand am Boden liegend gleichsam geschunden, mit Farbbrei beschmiert, begossen mit verflüssigter Farbe, um mit Pinseln tätowiert, malträtiert zu werden, Striemen und Einsprengsel hinterlassend. Verwundert betrachtete ich Tage später, was ich da angerichtet hatte, was an Farb-Lachen und Verkrustungen übriggeblieben war. Mit dem ‚musée imaginaire’ im Kopf wurden Bezüge zu Barock, zu Delacroix und Makart geschaffen. Das musée gab das Stichwort. Ich versuchte, den vor mir liegenden Farbzustand kostbarer zu machen, durch Lasuren Schicht über Schicht. Wann aber sollte ich aufhören, denn das ist die entscheidende Tat, wie es schon Paul Klee notierte. Die Folge der Zerstörungen führte zum Endzustand, dass „es stimmt“, mußte erreicht werden.
Und heute, meine neuen Bilder, was hat sich geändert. Der Machensvorgang damals — übrigens die gebräuchlichste Vokabel in tachistischer Zeit — gab dem Zufall der Malmaterial-Manipulationen zu viel Bedeutung. Dem Lesbaren unter dem Diktat des Unbewußten (Breton) wurde zuwenig Raum gelassen. Das automatische Zeichnen, die ‚écriture automatique‘ war immerhin reinster Ausdruck solcher Willenlosigkeit, dem Sichtreibenlassen, ganz Objekt, vom Unbewußten genährt zu werden. Wie gesagt, das schöne Bild, das Ästhetische war nicht das Entscheidende, war sogar Ablenkung, Ausweichen solcher Konsequenz. Es ging allein um den Wahrheitsgehalt im psychologischen Bereich, also nicht zum Beispiel um Cézannes Bild-Wahrheit vor der „schrecklichen Natur“, sondern um Sichtbarmachung eines inneren Zustands tiefer Schichten, von denen C. G. Jung sprach, als dem kollektiven Unbewußten.
Bernard Schultze erzählte bei seinem Besuch bei mir in Mainz, als er simultan zeichnete und redete, dass er ein schicksalhaftes Erlebnis hatte, das ihm die Augen öffnete: Er war im Kunstmuseum Basel, sah sich Zeichnungen von Joseph Beuys an. Er wanderte umher, ging um eine Ecke. Und stand staunend und beeindruckt vor Zeichnungen von Cézannes… —Andreas Weber
Solcher Automatismus ist am reinsten durch das Werk des zeichnenden, schreibenden Pinsel möglich, in einem dem inneren So-Sein im Augenblick der Handlung entsprechenden Zustand, „Brush-Work“ von den Amerikanern genannt.
Es gibt Stellen auf den Bildern von Soutine, Kokoschka und Ensor, nicht zu vergessen die beinahe somnabule Faktur des späten Corinth, selbst wenn sie alle die Natur als Sprungbrett noch nehmen. So ergeben sich Bezüge zu spätimpressionistischer bis expressiver Pinselschrift in meinem neuen Bildern, wie ich die Farbfleckreihung und Überlappung eines Cézanne benutze, ohne damit die Konzeption Cézannes auch nur im geringsten zu streifen. Vielmehr gestattet die Pinselschrift, eine weitläufige Erzählung innerer Welten zu realisieren.
Das gibt mir das Stichwort zu dem, was H. Stachelhaus als General-Titel zu meinen neuen Bildern bemerkte: innere Landschaften. Damals, in den fünfziger Jahren waren es tektonische Formationen, eine Art Erdbeben-Bilder der Gegenwart, an Carus Wortschöpfung denkend.
Ich glaube, meine Migofs der sechziger und siebziger Jahre mit ihrem breiten Stammbaum bis zu den Verzweigungen der Environments, haptische dreidimensionale Geschöpfe bereiteten jetzt den Umschlag vor., Unsichtbares, innere Konstellationen, ja Landschaften neuerer Art darzustellen. Natürlich fließen Fragmente von schon Gesehenem in Natur und Kunstgeschichte mit hinein, machen die Entzifferung solcher Bilder zweideutiger, schaffen Verunsicherungen, wie das Stammeln in der Trance.
Noch etwas zum Grundsätzlichen meines So-seins: Beaucamp [gemeint: Eduard Beaucamp, langjähriger Feuilleton-Redakteur der FAZ] nannte in einem Text über mich diese Situation Disziplin und Fantasie. Ich glaube, es ist eine manieristische Parole, die ich ganz bejahe und auch den Bruch zwischen Natur und Leben. Kein erweiterter Kunstbegriff soll es sein, im Gegenteil, Flucht in erträumte Welten, in ein Land Orplid, im Turm aus Elfenbein lebend.
- Bernard Schultze. Foto: WDR
- Bernard Schultze. Foto: WDR
- Bernard Schultze. Foto: WDR
- Bernard Schultze. Foto: WDR
- Bernard Schultze. Foto: WDR
- Bernard Schultze. Foto: WDR
- Bernard Schultze. Foto: WDR
- Bernard Schultze. Foto: WDR
Quellennachweis:
Beitrag von Wilhelm Weber. In: http://d-nb.info/830172181
Bernard Schultze: Bilder aus den Jahren 1977 – 1982 ; Mittelrhein. Landesmuseum Mainz, 13. November – 12. Dezember 1982 / [Hrsg.: Mittelrhein. Landesmuseum Mainz. Red.: Wilhelm Weber u. Wolfgang Venzmer]Ausstellungsbilder: WDR “Bernard Schultze in Köln und Düsseldorf: Abstraktion und Poesie”
Schultze, Bernard: Ausstellungsbuch mit dreidimensionalem Cover.
Baden-Baden, Staatliche Kunsthalle, 1974 (Exemplar Sammlung Weber-Schwarz, Mainz/Frankfurt am Main)