Hinterlassenschaft einer Zukunftsidee
Gebt der Freiheit der Phantasie eine Gasse! — Hermann Rapp
Zur Edition Nummer 20 der Offizier Die Goldene Kanne aus dem Jahr 2010 — Publikation aus Anlass der Einzelausstellung von Hermann Rapp (1937—2015) im Goethe-Haus zu Frankfurt am Main zur Jahreswende 2018/2019.
Das Buch enthält die Wiedergabe eines Texts, den G. W.F. Hegel im Jahr 1796 oder in den ersten Monaten des Jahres 1797 aufgeschrieben hat. Das Blatt kam 1913 über den Autographenhandel in die Königliche Bibliothek zu Berlin und wurde von Franz Rosenzweig 1917 publiziert. Er gab dem Text den Titel
Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus und vertrat die Auffassung, er sei von F. W.J. Schelling verfaßt, von Hegel nur abgeschrieben. Heute liegt das Manuskript in der Jagiellonischen Bibliothek zu Krakau. Die Verfasserschaft ist umstritten. Neben Schelling wurde auch Hegel selbst, sowie Hölderlin oder unbekannte Vierte als Autoren genannt.
Zu diesem Text schuf Hermann Rapp eine Reihe von Linoldrucken und inszenierte diese Hinterlassenschaft. Im nachfolgenden Text gibt er weiteren Einblick in sein Werk.
BIBLIOGRAPHIE
20. Druck der Offizin Die Goldene Kanne 2010, ein Kassettenwerk in beachtlicher Größe, 63 mal 54 mal 10 cm im Querformat, nach den Maßen das größte Buch der Offizin. Der von Hegel vor rund 200 Jahren geschriebene Text (die Urheberschaft ist ungewiß) wurde aus der 36 Punkt Garamont gesetzt und auf schwarzes Papier aus den Bergen des Himalaya gedruckt. Zum Text kamen eine Vielzahl von Graphiken. Diese Blätter wurden auf doppelseitigen blaugrauen Museumskarton montiert und außen mit einem Schild gekennzeichnet. Zwölf Doppelseiten liegen in einer Leinenkassette, auf dem Deckel befindet sich eine weitere Graphik, die auf Leinen gedruckt wurde. Außerdem wird jeder Kassette ein Flachrelief beigegeben, dieses wurde ähnlich gestaltet wie die Druckstöcke. Die Auflage ist auf 6 Exemplare plus 1 für die Offizin beschränkt. Im Kolophon, das neben den bibliographischen Angaben etwas über die Entstehung des Pressendrucks berichtet, ist das Werk von Hermann Rapp signiert.
WESHALB DIESER TITEL?
Seit vielen Jahren beschäftigt sich die Offizin mit dieser Hinterlassenschaft aus der Hand Hegels. Mehrfach wurde eine Veröffentlichung als Pressendruck ins Auge gefaßt, Probeseiten entstanden und wurden wieder verworfen, dann, im vergangenen Jahr (2009), reifte der endgültige Plan. Weshalb?
Der Autor des Textes will, daß die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse sich ändern sollen, er sucht neue Ideale. Dieses mutige Eintreten fasziniert. Wie vor zweihundert Jahren braucht auch unsere Gegenwart ein Umdenken, ein Weiterdenken, verlangt eine Besinnung und sucht eine Erneuerung. Solches Bedenken ergab den Titel des Buches: Hinterlassenschaft einer Zukunftsidee.
Freisein von aller Knechtschaft, so schreibt Hölderlin in seinem Hyperion. Und Schelling schreibt in den Aphorismen zur Naturphilosophie, daß außer der Vernunft nichts sei, in der Vernunft jedoch alles. Die Pariser Ereignisse nach dem 14. Juli 1789 gaben Mut und Entschlußkraft.

Die Druckstöcke wurden von Hermann Rapp oftmals als eigenständige skulpturale Wesen erhalten.
MENSCHFIGUREN UND DIE GRAPHIKEN
Im Text werden Mitmenschen werbend angesprochen, sie werden zum Mitmachen aufgefordert. Deshalb begleiten den Text in dem Pressendruck wieder eine Reihe von Menschfiguren. Wie bereits in anderen Büchern sind sie aus Linol geformt. Es scheint, daß sie noch statischer wurden, strenger und vielleicht noch mehr zum Symbol gewordene Idole.
Die Gesten sind ruhig, wir finden den Einzelnen, die Paare oder die Gruppe, die sich zusammenschließt oder die sich trennt, sich entzweit. Entzweit, um ein Neues zu beginnen.
Über viele Monate hinweg entstanden immer wieder veränderte Figuren, wechselnd von statischer Ruhe bis theatralischer Dynamik, gesucht wurde an vielen Orten, beim Schauspiel im Theater, bei den eigenen Bemühungen im Tai Chi oder als Beobachter auf der Straße. Ein weiterer Gedanke kam hinzu. Die Druckformen sollten nicht nur zum Drucken dienen, gleichzeitig sollten sie selbständige Plastiken oder Reliefs sein. Deshalb wurden die druckenden Elemente der zweiten und weiteren Farbe nicht als separater Druckstock gefertigt, sondern auf die zu druckenden Teile der erste Farbe aufmontiert. Die so entstandenen zwei-, teilweise dreistöckigen Flachreliefs wurden nach dem Druck der Graphiken grau übermalt – (die Möglichkeit, sie in Bronze oder Eisen oder Glas gießen zu lassen, ist noch offen).
Infobox
Zur Ausstellung in der Kulturhalle der Universitätsstadt Tübingen im März/April 2011
„Mir ist wichtig: junge Leute sind mit dem Zustand, den sie vorfinden, unzufrieden, sie wollen, daß sich alles ändere, zum Guten hin, zum Ideal. Das will ich zeigen, das wollen meine Akteure, das will ich.
Die Figuren sind aus Linol geformt, gedruckt wurden sie mit Acrylfarbe auf schwarzes Papier aus dem Himalaya, der Text wurde aus der 36 Punkt Garamont-Antiqua im Bleisatz gesetzt und ich druckte alles auf meiner Handpresse.
Die Bilder zeigen weiterhin Zeichnungen und Malereien, teils direkt zum Thema, teils das Thema begleitend. Außerdem warenin Tübingen Bücher aus der Offizin zu sehen. Die Ausstellung wurde gut besucht, es entstanden dabei gute Gespräche. Ich selbst war während der Laufzeit der Ausstellung in Tübingen.“
Fotonachweis: Nachlass Hermann Rapp, Burkhard Riegels
SCHWARZES PAPIER AUS DEM HIMALAYA
Alles Bunte wurde vermieden. Das Papier zeigt ein lebhaftes Schwarz, deshalb, weil durch das nachträgliche Färben und durch das Besondere dieses Handpapiers eine Vielzahl an Oberflächenglanz und -struktur entstand. Das reicht vom blauschwarzen metallischen Glanz bis zur Stumpfheit schwarzen Wildleders. Die Graphiken wurden mehrfarbig gedruckt, jedoch eben nur in Grautönen; und anstelle der üblichen Druckfarbe wurde Acrylfarbe verwendet, ein Novum im Hochdruck. Diese Farbe wurde so geführt, daß sie matt und stumpf auf dem Papier steht.
Wer hier jetzt abwertend an grau in grau denkt, verkennt das Druckergebnis. Dieses hat eher das Prädikat von feierlich, erhaben oder stolz. Das Blaugrau, das die Blätter ähnlich einem Passepartout umgibt, bringt außerdem Helligkeit auf die gewollt dunklen Seiten. Angestrebt wurde ein Gesamtbild, das mit Absolutheit vielleicht zu benennen wäre. Dank der Hilfe des Farbherstellers in der Schweiz und des Händlers konnte das Neuartige, mit Acrylfarben Graphiken im Hochdruck zu drucken, bewältigt werden.
Das Papier, gewonnen aus dem Loktastrauch, wird in den Bergregionen des Himalaya hergestellt. Die Standards entsprechen kaum derer unserer Bütten oder derer von Japanpapieren. Doch gerade das Unvollkommene birgt ungeahnte Reize. Aber auch Unkalkulierbares. Etwa wie Einschlüsse von Käfern, Insekten, Steinchen oder Sandkörnern, Holzstückchen und zu dicke Faserteile, Löcher oder dünne Stellen.
Außerdem sucht man vergebens nach einem rechten Winkel, auch das Maß der Bogen ist variabel und so fort. Das alles will beim Drucken bedacht sein, ein waches Vorausdenken ist die einzige Methode, trotzdem eine gutes Ergebnis zu erhalten. Ja, gerade diese Herausforderungen machen das Papier immer wieder zu einem bevorzugten. Letztendlich zählt das Ergebnis und das ist zufriedenstellend.
TEXT UND SATZ
Der Text wurde wie immer in der Offizin Die Goldene Kanne im Handsatz hergestellt. Verwendet wurde die Garamont-Antiqua von der Fonderies Deberny & Peignot in Paris im 36-Punkt-Grad. Die im Originalmanuskript verwendeten Kürzel wurden ausgeschrieben, alles was dort unterstrichen wurde, ist im Satz in Kursiv gesetzt, Ausstreichungen bei Korrekturen wurden nicht erwähnt.
Seit vielen Jahren, noch aus der Zeit der ersten Buchpläne der Offizin, liegt von der Bibliothek in Krakau ein Farbdiapositiv von den beiden Manuskriptseiten vor. Gerade während der Zeit des Druckens führte der Weg nach Krakau. Das Glück war, dort das Original einzusehen. Den Mitarbeitern in der Jagiellonischen Bibliothek sei für die große Hilfe und Liebenswürdigkeit an dieser Stelle Dank gesagt, besonders an Frau Anna Kozlowska.
Am Original in Krakau war zu entnehmen, daß vom beschriebenen Blatt mittels Schere oder Messer schmale Streifen an der linken Längskante abgeschnitten wurden; vielleicht war das Blatt mittels Fälzel an ein anderes Blatt angeheftet. Der obere und der untere Teil der linken Kante haben noch den originalen Büttenrand, in der Mitte sind einige Buchstaben minimal beschnitten. Die Handschrift ist im Duktus ruhig, geschrieben mit einer gut gespitzten Feder, fast möchte man an eine Stahlfeder denken.
HEGEL HÖLDERLIN SCHELLING
Welch ein Dreigestirn! Drei junge Tübinger Bundesbrüder wollen der Welt eine neue Moral geben. Drei Studenten aus dem Stift. Unten am Neckar. Alle drei sollten Pfarrer werden. Das wollten die Eltern. Und alle drei werden mit dem Text, dem Franz Rosenzweig 1917 den Titel Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus gab, in Verbindung gebracht. Teils als Autor dieses Textes, teils als Ideengeber.
Wissen tun wir nur, daß der hinterlassene Text von Hegel geschrieben wurde, ob nur abgeschrieben (für sich von einer anderen Vorlage) oder nur aufgeschrieben (für eine andere Person), ist offen und wird wahrscheinlich offen bleiben. Vieles spricht jedoch dafür, daß das Denken aller drei in diesem Text zu finden ist. Dieses zu untersuchen, ist nicht die Aufgabe eines bibliophilen Buches, das soll anderen vorbehalten bleiben.
Es sei jedoch verraten, daß beim Machen des Buches, beim Setzen, beim geduldigen Werden der Druckstöcke, überall dort, wo man mit seinen Gedanken die des Autors sucht, dabei wurde oft an alle drei gedacht. Vielfach war dann ein Bild vor einem, das die drei vereint zeigt, wie bei den Menschfiguren, bei denen auch Dreiergruppen zu finden sind. Vielleicht zeigt eine Gruppe diese drei jungen Tübinger aus dem Stift. Vielleicht. – Deshalb: gebt der Freiheit der Phantasie eine Gasse! HR
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