
Kurz vor der Eröffnung: Valy vor ihrem Bildwesen-Zyklus ›Der letzte Tango‹. Foto: Andreas Weber, Mainz/Frankfurt am Main
Valy Wahl — „Tanz um die Kuh“
Eröffnungsrede von Andreas Weber, Kunstverein Ingelheim, 3. April 2016
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste und Freunde des heutigen Eröffnungstages, der unter dem Thema steht: „Tanz um die Kuh“.
Ich darf gleich zu Beginn Entwarnung geben. Niemand soll und muss heute rituelle Tänze begehen, in deren Mittelpunkt ein Rindviech steht, das weder Kalb noch Stier, sondern eine Kuh ist. Geht es doch um eine im Jahr 2006 entstandene Malerei mit diesem Titel, die den Kuratoren und Organisatoren ins Auge sprang, um damit die Einladung zu schmücken respektive ein Motto für die Ausstellung zu finden.

Valy: Tanz um die Kuh, Malerei, 2006. Foto: Valy, Mainz
„Tanz um die Kuh“ erscheint heute im Kontext mit durchweg ungewöhnlichen Bildtiteln: „Grille musiziert“, „Gesang der Frösche“, „Cocoon“, „Kentaur hilflos“, „Goldrausch“, „130 Kilo“ — aber auch „Verwirrung“, „Hochmütig“, „Macht“, „Ausgelacht“, „Listiger Handel“, „Geschrei“, „Verschleiert“, „Grüne Augen“ sowie „Schönheit in Bedrängnis“, „der da, der die Könige krönt“, „Segen des Friedens“, „Aphrodite begehrt“ oder „Amerika“ und „Hiroshima lebt“, beide aus dem Jahr 2015. Ein umfangreiches Ensemble, bestehend aus neun Einzelgemälden, nennt sich „Der letzte Tango“ und datiert in das Jahr 2009.
Die Symbolkraft der Bildtitel entfaltet ein Eigenleben. Oder? — Und zeugt davon, wie Valy, die Malerin, ausdrucksstark mit Sprache umgehen kann. Fast im Sinne des Philosophen Wittgenstein, der sich Gedanken darum machte, wie wir mehr Klarheit über die Beziehung von Sprache und Welt erhalten können.
Letztlich lautet die Erkenntnis von Wittgenstein, die Sprache, die wir benutzen, sei die Welt in der wir leben. Diese Welt lässt Valy durch ihre Malerei vor unseren Augen entstehen — geprägt von Schönheit und Sinnlichkeit ebenso wie von Grauen, Katastrophen, Schimären, Dämonen und Psychotischem. Valy lässt als Ergebnis ihrer Malereien „Bildwesen“ entstehen, wie sie das nennt. Sie ist damit wie vor Jahren dargelegt der Philosophie (neben Wittgenstein-Schriften v. a. Hans-Georg Gadamers „Verstehen und Gespräch als Voraussetzung für ein Weltethos“) und der symbolistisch-visionären BIldsprache der Literatur und Poesie des Comte de Lautréamont mit seinem „Maldoror“ näher als gängigen kunstgeschichtlichen Deutungsversuchen.

Valy und Andreas Weber. Foto: Gunda Vera Schwarz, Frankfurt am Main
Zu den Protagonisten
Valy Wahl und Andreas Weber kennen sich seit über 50 Jahren und haben eine ganze Reihe gemeinsamer Projekte erfolgreich realisiert.
Valy hat sich wie kaum jemand sonst über mehr als 45 Jahre als Kulturaktivistin profiliert und der Stadt Mainz sowie der Region Rheinhessen gedient. Ihr umfangreiches malerisches Werk ergänzen zahlreiche Publikationen, Designarbeiten und künstlerische Grafiken. Bis 2010 war Valy Professorin an der Hochschule Mainz, Schwerpunkt künstlerisches Arbeiten für Kommunikationsdesigner.
Andreas Weber lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und Mainz, wo er das Kommunikationsparadies als eine dem Geist Gutenbergs gewidmete Stätte für persönliche Begegnungen und das gemeinsame Erleben der Kunst der Kommunikation etabliert hat. Er engagiert sich für ein integratives Verständnis von Kultur, Kunst und Innovation.
Der Bildwesen-Zyklus „Der letzte Tango“ zeigt eine Gratwanderung: Valy liebt Tango. Die rhythmischen Bewegungen, die Eleganz nimmt sie in ihren Bann, ebenso wie die fast archaisch-berauschte, ins Mark treffende Stimmung, die beim Tango-Tanzen entstehen kann. Sie selbst sagte mir dazu: „Der letzte Tango, Du weißt, ich tanzte gerne und der Tango bringt mich schon aus dem Gleichgewicht … das Gefühl bei dem übermäßigen Temperament dieses Tanzes und der Musik, in aller Welt geliebt, aber überall hat er seine regionale Prägung…“
Valy’s gemalter „Tango“ huldigt dem Tanz und macht ihn gleichzeitig beinahe „gruselig“. Sie mystifiziert aber den Tango nicht, bildet auch nicht einfach nur die Tänzer ab, sondern räsoniert ihr, Valys, Empfinden beim Tango-Tanzen. Diese intensive Empfindung wird spürbar, wenn man die Bilder in Ruhe betrachtet, immer wieder die Augen schließend, sich intensiv verbindend mit dem visuellen Erleben von Valys Malerei-Zyklus. Gelingt es, wie von mir beschrieben, eine Synthese von Mensch/Betrachter und Bildwerken herzustellen, kann man ganz leise sogar die Musik „hören“, die Tango-Tänzer in den Bann zieht. „Der letzte Tango“ gestaltet sich ambivalent: Es kann sowohl „zuletzt“ gemeint sein im Sinne einer jüngsten, unvergesslichen Erinnerung, wie auch der letzte Tanz im Leben. Schön, dass wir als Betrachter hier Spielraum erhalten.
Um all dies, ihr Empfinden als Künstlerin, punktgenau zum Ausdruck zu bringen, hat Valy eine eigene Maltechnik erfunden. Statt Leinwand, Pinsel oder Ölfarben/Acryl zu verwenden, nutzt sie verschiedenste Lacke sowie Kunststoffplatten als Malgrund. [Die Malereien mit den Nummer 26 und 27, dieser Ausstellung „Verwirrung“ und „Geschrei“, gehören übrigens zu den ersten Bildwesen, die in der neuen Mal-Technik entstanden].
Malerei als Experiment, das von Valy gelenkt wird. Ohne Anspruch auf die Darstellung von etwas, das wir in der realen Welt wahrnehmen könnten, vom Künstler präsentiert, interpretiert oder überhöht. Die hohe Bedeutung von Valys Malerei wird erkennbar, wenn man Valys Bildwesen vergleicht mit herausragenden Darstellungen, die wir — um im Kontext „Tanz“ zu bleiben — in dem von mir im Jahr 2002 herausgegebenen Buch „Ein Porträt — Martin Schläpfer Ballettmainz“ finden. — Guido Ludes gab den Impuls, dass junge Designkünstlerinnen in einer neuen Bildtechnik, dem Polaroid-Transform-Verfahren, Schläpfers Ensemble bei der Arbeit porträtierte. Das ist wohl gelungen. Schläpfer kommentierte: „…eine ganz eigene Sicht ist entstanden / eine Sicht, die mich berührt — Raum gibt / jede Bildgestaltung ruft in mir einen Text — eine Erinnerung / es geht um Tänzer — das ist für mich das schöne / auch das emotionale an dieser Arbeit“.
In der Tat, die Darstellung der Mitglieder im Ballett-Ensemble wirkt gelungen und beeindruckt kolossal.
Doch Valy setzt einen anderen Akzent und stellt klar: Ihre Kunst begnügt sich nicht damit, zu beeindrucken oder bestaunt zu werden, wie die teure Briefmarke im Album des Sammlers oder das Meisterwerk der Museumssammlung, das sich hinter Panzerglas schützen muss. Valy stellt sich in den Dienst des Fühlens, der tiefgreifenden Empfindung, die unser Innerstes berührt. Valy lässt historische Ereignisse wieder auferstehen, sowohl die Römerzeit als auch das Mittelalter aus Anlass des 1000-Jahr Jubiläums des Mainzer Doms. — „der da, der die Könige krönt“ [Ausstellungsnr. 2, entstanden im Jahr 2009] zeigt zwei Bischöfe vereint, Erzbischof Siegfried III. von Eppstein und Erzbischof Peter von Aspelt. Es wurde im Mainzer MVB Forum bei der Ausstellung des Kunstverein Eisenturm erstmals gezeigt.

Valy, Malerei 2009, ›der da, die Könige krönt‹. Foto: Klaus Benz
Seit 2003 hat Valy ihre eigene Maltechnik perfektioniert und variiert. In dieser Ausstellung, hier im Ingelheimer Kunstverein, hat sie Präziosen ihrer Bildwesen versammelt. Was sich naturgemäß in einer solchen Galerie-Ausstellung verschließt, ist der Kontext zum Umfeld der Entstehung von Valys Bildwesen. „Gesang der Frösche“ entstand auf dem Land, damals im Otterbacher Atelierhaus. Meine Frau Gunda Vera Schwarz und ich konnten die Bildtafeln 2013 auf der dortigen Gartenterrasse bewundern, umgeben von Bäumen, Sträuchern, Wildpflanzen; und rostigen Blechdosen, die das Farbklima aufgriffen und verstärkten. Es bleibt ein einzigartiger Sinnes-Eindruck, der immer wieder emporkommt, wenn man wie jetzt heute die Bilder wieder sieht. Kurzum, ein wahres Meisterwerk! Vor allem, weil es uns mit persönlichem Erleben verbindet.
Welches Innovationspotenzial Valys Maltechnik bietet, zeigt sich bei „Amerika“ und „Hiroshima lebt“ [Ausstellungsnummern 11 und 9, entstanden 2015]. — Zwei Bildwesen, die auf Aktuelles und Grauenvolles unseres Zeitgeschehens reagieren. Krieg, Gewalt, Katastrophen, der Wunsch nach Freiheit und Glück. Alles schon einmal da gewesen; aber wir haben nichts daraus gelernt und handeln wider besseres Wissen oder Grundsätze, die einst zu Demokratie, Mit-Menschlichkeit und Freiheit führten. Die Themen rührten Valy dermaßen an, dass sie nicht in der Lage war, in gewohnter Weise zu arbeiten. Sie erprobte eine neue Technik mit Schelllack, vertauschte positiv mit negativ. Entstanden sind ausdrucksstarke, grossartige neue Bildstrukturen und Sujets, die der Eindringlichkeit des jeweiligen Themas Rechnung tragen. Experimentierfreude ist dadurch kein Selbstzweck, sondern oberste Maßgabe, um der Malerin Valy zu ermöglichen, ihre Gefühle und Gedanken visuell auf höchstem Niveau mitzuteilen.
Valy sagt dazu: „Der Anfang meiner kreativen Arbeit ist spontan und intuitiv. Der Zufall bestimmt meine Formgebung. Die sich daraus entwickelnden Formen fordern mich, immer wieder wähle ich neue Wege, um letztlich Herrin der magischen Kräfte zu bleiben.“
Brillante Fotoimpressionen von Klaus Benz.
Es ist ist daher kein Zufall, dass die Schelllack-Strukturen in einer Frühphase fotografisch dokumentiert wurden und in Kombination mit dem eigens geschaffenen, textlich-künstlerischen Manifest von Valy, genannt „Kunst DurchLeben“, gestaltet wurde, das an Valys gleichnamiges Katalogbuch von 2010 anknüpft. Diese neuartige, eigenständige, multimediale Form der Kommunikation über ihre Kunst und ihre Bildwesen zog bei der Ausstellung im Mainzer Rathaus im Dezember 2015 die Besucher in ihren Bann; und sorgte für ein Höchstmaß an Interaktion, wie man es selten in Galerieausstellungen erleben konnte. Das Ganze gelang durch die Kombination von Malerei, Text, Computeranimation und Print.
Dieses Manifest von Valy lässt uns teilhaben an dem, was sie in ihrer künstlerischen Arbeit wie auch in ihrem ganzen Leben bewegt und prägt. Es ist via Internet öffentlich zugänglich. Als Text im Blog, per Valys Facebook-Seite oder auf YouTube.
Dieses einzigartige Manifest zeigt, was Valy als Malerin, als Lehrerin und Professorin, als unermüdliche Kuratorin und Ausstellungsmacherin und quasi Kulturaktivistin geschaffen hat.
Auszug:
(1)
Ich will Neues gestalten, formen, verändern. Nur wenn ich forme, verändere ich. Ich provoziere, dass sich Materialien unvollständig ergießen, in der Flächenausdehnung gestört werden und erstarren. Das heißt, ich gehe von neu entstandenen Strukturen aus, die mir Halt geben, aber auch meine inneren Welten anregen, um darin spazieren gehen zu können.(9)
Für mich war und ist die entscheidende Frage, im Rückblick auf meine jahrzehntelange Gestaltungsarbeit und Lehrtätigkeit, im Streben nach der Kunst/Existenz und Kunst/Qualität: „Was ist für mich geblieben, über welche Kräfte verfüge ich noch, vor allem: Wie viel Kraft ist mir vergönnt, um weiterhin schöpferisch zu sein?“ — 45 Jahre Power! Alles gegeben, vor allem um zu helfen, dass an der Hochschule junge Menschen selbständige Persönlichkeiten werden und dass sie selbst zu ihrer eigenen Persönlichkeit finden.
(10)
Die verbleibende Schaffenszeit trägt die Ungeduld, die sich in den Bildmotiven, der Farbigkeit und dem Neuerschaffen von Strukturen und Formen mitteilt.
Meine Damen und Herren, damit ist Vieles, wenn auch längst nicht alles gesagt. Der Rest liegt an uns.
Nutzen Sie die Ausstellung, um sich mit allen Sinnen zu vertiefen, um mit und über Valys Bildwesen, die heute hier versammelt sind, zu reden. Und nicht nur um Eindrücke, sondern um persönliche Erkenntnisse mitzunehmen und in Erinnerung zu halten.
Valy und ich selbst möchten zum Abschluss an drei existentielle Fragen erinnern, die uns der große Symbolist Paul Gauguin 1897 mitgegeben hat und die stets für das was wir tun, was uns bewegt, eine Grundlage bilden können:
- Woher kommen wir?
- Wer sind wir?
- Wohin gehen wir?
Valy und ihre Malerei, ihre Bildwesen helfen uns, Antworten zu finden. Gerne auch gleich im Gespräch mit ihnen. Ganz persönlich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Valy und Andreas Weber. Foto: Selfie!
ADDENDUM
Dr. Otto Martin hatte am 4. Mai 2016 eingeladen zum Jour Fixe des Kunstverein Eisenturm (KEM), um mit Valy Wahl (seit langem KEM-Mitglied und im Vorstandsbeirat aktiv) durch ihre Ausstellung im Kunstverein Ingelheim zu führen. Rund 40 Gäste waren gekommen und zeigten sich begeistert und fasziniert von den einfühlsamen und anregenden Erläuterungen und Gesprächen. So intim, persönlich inspirierend und detailgenau kann man sonst Kunstausstellungen kaum erfahrbar machen. Und im Anschluss wurde bei gemeinsamen Abendessen munter weiter diskutiert. Kunsterleben vom Feinsten. — Nachfolgend einige Video-Impressionen (freihändig mit dem Smartphone von Andreas Weber aufgezeichnet).