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Dieter Glasmacher Titelbild Blog Post.001

 

 

Redetext von Andreas Weber zur Eröffnung am 6. Juni 2014 im Kunstverein Eisenturm Mainz – KEM e. V.
© 2014 für Text, Fotos und Bildcollage by Andreas Weber, Mainz
Informationen zum Künstler: http://www.dieter-glasmacher.de

 

 

Meine Damen und Herren,

stellen Sie sich bitte vor: Sie laufen durch eine Grossstadt. Geprägt von inter-kulturellem Miteinander, Migration, Flucht, Zuflucht, Reichtum, Elend, Drogen, Gewalt, Hektik, Lärm, Schmutz und Glanz. Ein Freund sagt: Ich zeige Dir mal was. Sie betreten ein Museum, dass normalerweise die kulturelle Blüte dieser Grossstadt und ihres Landes inszeniert. Sie sehen gekrümmte, verbogene Leinwände, mit groben Holzlatten vernagelt, gerade so, als wäre etwas im Entstehen. Alle Leinwände sind wild bemalt, mit abstrakten, Graffiti-artigen Codierungen. Überhäuft mit Schrift-Botschaften. Das Publikum schwankt zwischen Faszination und Ablehnung, wenn nicht gar Schock oder Ekel. Man verweilt letztlich, weil es ja ein anerkannt berühmtes Museum ist. Die Elite der Stadt steht Pate als Sponsorengemeinschaft, in noblen Förderkreiszirkeln.

Beeindruckt und durchaus verwirrt verlassen Sie die Ausstellung, das Museum. Und auf einmal entdecken Sie in der ganzen Stadt die Bildmotive, die sie gerade in der Ausstellung eingesperrt sahen. Als Freiläufer. An Hauswänden, durch geschichtete Überklebungen an Bushaltestellen, Telefonhäuschen, Hydranten, überall dort, wo ein Zettel/Aufkleber/Plakat nach dem anderen aufgebracht und wieder abgerissen wird. Kritzeleien aller Orten. Kombiniert mit den Spuren täglichen Umweltmülls. Drastisch, eindrücklich, bedenkenswert, merkwürdig.

So tatsächlich passiert. 1992. In Manhattan, dem Herzstück und Puls von NYC. — Seltsamer Kreislauf, oder?

 

Meine Damen und Herren,

stellen Sie sich bitte vor: Sie sind in Mainz, in wunderbar-historischen Räumen. Sie spüren den Hauch der Jahrhunderte. Den Atem langer kultureller Tradition. Von den Wänden schreien stumm abstrakt-graffitiartige Bild-Text-Codierungen. Alles andere als gefällig. Alles andere als unaufdringlich oder gar verharmlosend. Man mag schwanken zwischen Faszination und Ablehnung, wenn nicht gar Schockzustand. Und man fragt sich: Ist das hier eine Ausstellung? Oder hat jemand hier sein neues Atelier aufgebaut?

So tatsächlich passiert. 2014. Im Eisenturm, unserem Herzstück und Puls von MZ RLP.

Was passiert, wenn Sie später rausgehen, auf die Strasse, bleibt abzuwarten. Aber bitte denken Sie jetzt nicht, die Welt wäre anschließend, wie sie vorher war. Wir leben nicht in einer heilen Welt. Wir können aber Bedrohungen und Gefahren meistern. In der Reflexion von Kunst und Kultur. Drastisch, eindrücklich, bedenkenswert, merkwürdig.

 

„Seine Kunst ist weit entfernt von einem bildungsbürgerlichen Kanon der Erbauung. Aber wer sich einlässt auf die Bilder, dem bieten die reichhaltigen Assoziationsketten humorvolle Kommentare zur Gegenwart und einen wachen und bunten Blick auf die Welt.“

So wird Dieter Glasmacher auf culturmag.de beschrieben. Die Plattform bietet eine Online-Galerie und stellt in regelmäßigen Abständen Arbeiten interessanter Künstlerinnen und Künstler vor. Zum Auftakt wurden 2010 fünf Bilder des Malers Dieter Glasmacher präsentiert.

 

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Weiter heisst es bei culturmag.de:

“Dieter Glasmacher wurde 1940 in Krefeld geboren und lebt heute in der Nähe von Hamburg. Beeinflusst von der klassischen Moderne, gerade dem Dadaismus, und Strömungen zeitgenössischer Kunst wie Art Brut und Pop Art, hat Glasmacher in vielen Schaffensjahren eine sehr eigenständige Position und eine lebendige, originelle Bildwelt entwickelt. Auch Comic- und Graffitikunst sind in den Arbeiten sichtbar, ebenso wie die „Geheimspuren“ des öffentlichen Raums, Worte und Kritzeleien, wie man sie in Pissoirs, an Bushaltestellen oder Häuserwänden findet.

Die Vorstellung einer Wandfläche ist von zentraler Bedeutung: So kommen seine Arbeiten meistens ohne große Perspektive aus. Untergrund, montierte Gegenstände, Schriften und Figuren stehen gleichberechtigt nebeneinander. Dieses additive Verfahren erlaubt eine große Freiheit und einen enormen Assoziationsreichtum – beim Malen und beim Betrachten. „Ein Bild ist nie fertig und sollte immer weiter malbar sein“, sagt Glasmacher, so wie auch an Pissoir- oder Häuserwänden ständige Veränderung möglich ist, durch Ergänzung und Übermalung.”

Bei Ausstellungen von Dieter Glasmacher – so geschehen zum Beispiel im Palais für aktuelle Kunst in Glückstadt – entsteht der Eindruck, der Künstler habe sein Atelier in die Ausstellungsräume verlegt. Das Bezugsfeld ist also stets, das hier und jetzt, das was gerade passiert und spontan einbezogen wird. Dieter Glasmacher beeindruckt nicht nur, er bewertet, kommentiert, zeigt auf, prangert an. Auf eine ganz eigene Art und Weise. In Glückstadt drückte man dies damals so aus: „‚Die Realität wird überbewertet‘. Der Satz wurde von ihm, wie viele andere Slogans, als Zitat aus einer Zeitung, einer Werbung oder einem Film übernommen und so künstlerisch angeeignet.“

Betrachtet man die Biografie von Dieter Glasmacher, ist man ebenfalls beeindruckt. Einzel- wie auch Gruppenausstellungen haben ihn quer durch Deutschland und in die weite Welt geführt: Von Lima, Peru, bis Abidjan an der Elfenbeinküste, Mexiko-City, Paris, Zürich, London, Gent, Kairo, Athen, Budapest, Amsterdam, Marseille, Lausanne, Leningrad, nach Polen und Dänemark — weitere andere Stationen wären zu nennen. Ausgestellt wird in Galerien, Kunstvereinen, Museen, auf Biennalen oder mit dem Goethe-Institut oder bei Kunsthäusern und -Stiftungen. Es ist fast verwunderlich, dass bei all diesen Aktivitäten noch Zeit bleibt zum künstlerischen Arbeiten.

Auffällig ist die — nennen wir es Multimedialität und Multi-Dimensionalität — von Dieter Glasmacher.

Im Text der Galerie Herold zur Ausstellung 2006 heisst es:

„In seinen Arbeiten führt Dieter Glasmacher Erfahrungen aus den unterschiedlichsten Ebenen zusammen: Erlebnisse, die er während seiner langen Studienreisen durch Afrika gemacht hat und auf seiner Segeltour in die Arktis, fließen genauso in seine Bilder ein, wie die Eindrücke aus seiner direkten norddeutschen Umgebung in Hamburg und an der Elbe. Prägend auf seine Bildwelt wirken außerdem Fernsehen, Kino, Werbung sowie Graffiti und andere Formen der Straßenkunst bis hin zu Krakeleien (…). Sein Hauptthema ist seine Betroffenheit von aktueller gesellschaftlicher Unterdrückung und Deformation.” (Zitat nach W. Brodersen /C. Mewes)

Und weiter wird Auskunft über seine Biografie gegeben: „Dieter Glasmacher lässt sich zunächst zum Musterzeichner ausbilden. Nebenher entstehen aber auch freie Zeichnungen und um seine Kenntnisse hier zu erweitern, besucht er Abendkurse der Werkkunstschule Krefeld. Als 23-Jähriger zieht er nach Hamburg, wo er an der HfbK bei Hans Thiemann Malerei studiert. Nach zwei Jahren wechselt er in die Klasse von Klaus Bendixen und beschäftigt sich intensiv mit Drucktechniken. Noch während seiner Studienzeit nimmt er an ersten überregionalen Ausstellungen teil und engagiert sich in Künstlergemeinschaften.

In den folgenden Jahren wird sein Werk in Galerien und Museen in nahezu allen größeren Städten Deutschlands und im europäischen Ausland präsentiert, und Glasmacher wird mit zahlreichen Ehrungen ausgezeichnet, so u.a. 1979 mit dem Edwin-Scharff-Preis der Stadt Hamburg. Ab den 80er Jahren kommen internationale Ausstellungen außerhalb Europas dazu. Und 1989 beginnt seine zusätzliche Tätigkeit in der Lehre, seit 1995 als Professor an der Hamburger Fachhochschule für Gestaltung.

Schon früh zeichnet sich in Glasmachers Arbeiten und Aktionen sein gesellschaftspolitisches Engagement ab: Kritische Beiträge zum Kunstbetrieb sowie Demonstrationsakte im Zuge der 68-Bewegung machen ihn bekannt.

Der Künstler bedient sich hierfür verschiedenster Medien – vom Wandbild bis hin zum Trickfilm [in Zusammenarbeit mit Kurt Rosenthal, Mainz]. Allen seinen Arbeiten haftet ein collageartiger Charakter an: Scheinbar zusammenhangslos kombiniert er Figuren, Zeichen, Farbfelder und Schriften. Sie bilden Erfahrungsstückchen, die assoziativ zu einem Puzzle zusammengefügt sind und wiederum Assoziationsketten beim Betrachter auslösen. Meist stellt Glasmacher starke Emotionen wie Wut, Trauer oder sexuelle Begierde heraus, aber auch bunt leuchtende Lebensfreude wird in den Bildern thematisiert.“

 

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Meine Damen und Herren:

Stellen Sie sich bitte vor: Dieter Glasmacher wäre nicht nach Mainz gekommen, um uns sein künstlerisches Schaffen zu präsentieren — mit dem vielsagenden Titel „Seltsamer Kreislauf“.

Stellen Sie sich vor, Dieter Glasmacher hätte nicht 1969 zusammen mit Werner Nöfer das erste Wallpainting Europas erschaffen.

 

Apropos: Ausstellungstitel

Seltsam hat eine vielschichtige Bedeutung:

Das Adjektiv selten bildet den Grundstock, aber auch andere – quasi wie Synonyme – kommen sogleich in den Sinn:

außergewöhnlich, besonders, ungewöhnlich, bizarr, schrullig, wundersam, erstaunlich, eigenartig, merkwürdig, eigenbrötlerisch und komisch.

 

Kreislauf bezeichnet: Zyklus, Zirkulation, Folge, Reihenfolge, Abfolge bzw. regelmäßige Abfolge, Gleichmaß, periodische Abfolge, Ordnung, Rhythmus, Regelmäßigkeit.

 

Der Kern des Wortes Kreislauf ist Kreis:
Der Kreis ist ein universelles Symbol. Vielleicht das globalste, das es gibt. In allen Kulturen findet es sich: Als Symbol für Sonne, für die Gestirne, für das Göttliche oder das Immerwährende. Es leitet sich ab aus alten Zeiten: KRIZZON, althochdeutsch für einritzen, kritzeln und krazen.

Etwas zieht seine Kreise, uns allen geläufig, wenn wir beschreiben wollen, wie Dinge ihren Lauf nehmen, um Wirkung zu entfalten. Im Guten wie im Bösen. — Wir sehen, der Titel ist mit Bedacht gewählt. Und charakterisiert vortrefflich, wofür die Exponate und der Künstler mit seinem schöpferischen Rhythmus stehen. Das im „Kreis Laufen“ kann sowohl eine Wohltat, zur Entspannung, als auch Horror sein (wenn man sich Ver-Laufen hat). Dank Dieter Glasmacher finden wir durch „Seltsamer Kreislauf“ Orientierung.

Nebenbei: Störe meine Kreise nicht, ist eines der häufig bemühten Zitate nach Archimedes. Sie erinnern sich? Der griechische Mathematiker und Physiker lebte im 3. Jahrhundert v. Chr. und gilt als einer der größten Mathematiker aller Zeiten. Der Legende nach war Archimedes eines Tages damit beschäftigt, geometrische Figuren in den Sand zu zeichnen, als die Römer anrückten um ihn festzunehmen. Er war jedoch so sehr in seine Aufgabe versunken, dass er barsch mit dem Satz reagierte: “Störe meine Kreise nicht.” Dies brachte einen der Soldaten so in Zorn, dass er den alten Mann erschlug. — Alles andere als eine heile Welt!

Und heute, in unseren „Modernen“ Zeiten, drücken wir mit dem Ausspruch “Störe meine Kreise nicht” aus, dass wir gerade nicht gestört werden, uns abschotten möchten.

Vermutlich ist dies das Schlüsselelement der Kunst des Dieter Glasmacher: Eine „erstaunliche Regelmäßigkeit“ und „merkwürdige Ordnung“ koppeln können mit „wundersam-komischer“ Wahrnehmung und Darstellung der Welt und unserem Tun. Im Guten wie im Bösen.

 

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Seltsamer Kreislauf: Das von mir eingangs erwähnte Geschehnis aus dem Jahr 1992 hat nichts mit Dieter Glasmacher zu tun. Oder doch?

1992 zeigte das renommierte Whitney Museum of American Art die Aufsehen erregende Retrospektive von Jean-Michel Basquiat. Gewidmet dem ersten afroamerikanischen Künstler, der den Durchbruch in der hauptsächlich „weißen“ Kunstwelt schaffte. Wie eine Supernova stieg er auf – auch dank der Beziehung zu Andy Warhol – und verglühte nach nicht einmal 28 Lebensjahren abrupt. Geprägt von einer fulminanten Besessenheit, dem Schrecken, seinem Schrecken eines schwarzen Lebens künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Basquiats Kunst- und Stilrepertoir hat viel mit Dieter Glasmacher gemeinsam.

Nur: Dieter Glasmacher hat dies schon entwickelt und kultiviert, bevor Basquiat künstlerisch zu arbeiten begann (er ist 1960 geboren und verstarb so früh im Jahr 1998). Und Dieter Glasmacher arbeitet noch heute in ungebrochen dynamischer, frischer, lebendig-provozierender Art, wie wir hier im Kunstverein Eisenturm sehen und erleben dürfen. Erstaunlich, wie Regelmäßigkeit auf vielfältige Weise ihren eindrücklichen Ausdruck in seinem Werk findet!


Seltsamer Kreislauf. Oder?

Doch lassen wir, schlussendlich, den Künstler selbst zu Wort kommen.

Dieter Glasmacher sagte anlässlich einer Ausstellung „Fernwärme – Daheim auf dem Lande“ im Jahr 2009: „Am Anfang des Studiums war ich fasziniert von der Art Brut.“
[Zur Erläuterung: Der Begriff kommt aus dem Französischen, für ‚unverbildete, rohe Kunst‘; gemeint ist damit ein Sammelbegriff für autodidaktische Kunst von Laien, Kindern und Menschen mit geistiger Behinderung. Art brut ist weder eine Kunstrichtung noch eine Stilbezeichnung, sondern beschreibt eine Kunst jenseits etablierter Kunstformen und -strömungen.]

„Sie ist einfach und direkt. Mich interessiert die Einfachheit des Auftrags, dass die Figur teilweise nicht modelliert ist, dass es keine Perspektive gibt, dass alles wie hochgeklappt, geschrieben ist, wie auf eine Wand“. Und Dieter Glasmacher fährt an anderer Stelle fort: „Teilweise beziehe ich meine Inspiration nicht nur aus Graffitis, sondern auch aus Geheimspuren, die irgendjemand hinterlässt und irgendjemand überstreicht (..) Und da gibt es auch keine fertigen Geschichten. Der nächste kommt dazu und setzt wieder einen Spruch drüber. Und so arbeite ich auch.“

Die Fertigkeit zum Unfertigen, das sich ständig fortschreibt, ist das nicht ein Seltsam-Denkwürdiger Kreislauf“?

So erschließt sich das Zitat auf unserer Einladung in noch besserer Form:
„Ich arbeite assoziativ, additiv. Mich interessiert die Gleichzeitigkeit.
Alles geschieht gleichzeitig.“

 

Wir freuen uns, lieber Dieter Glasmacher, das Sie hier bei uns im Kunstverein Eisenturm sind, um ihre Gedanken, Empfindungen, Erfahrungen und Imaginationen durch ihr beeindruckendes Werk mit uns teilen.

 

Video-Animation zur Ausstellung im KEM:

 

Weitere Informationen zum KEM

 

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